Feuer und Flamme für den Reiseatlas
Ein Interview mit dem Kartografen Manfred Müller
Welche persönliche Beziehung haben Sie zu den Digedags?
Einmal im Monat wurde das fieberhafte Warten auf den Postboten, der damals in unserem kleinen Dorf noch jeden Wochentag die Post ins Haus brachte, belohnt. Er hatte in seiner großen Posttasche ein MOSAIK für mich. Meine liebe Oma kaufte es mir dann trotz der teuren 60 Pfennige. Das war 1964, etwa mit Beginn der Runkel-Serie. Ich war regelrecht versessen auf die Digedags. Bei jeder Altpapiersammlung in unserem und dem Nachbardorf schnitt ich die Bündel auf und suchte nach MOSAIK-Heften. Als guter Jungpionier schnürte ich nach der Suche alles wieder ordentlich zusammen. Manchmal hatte ich sogar Erfolg. Ich kann mich ganz bildhaft an das Heft 76 „Pepperkorns Pagodenfest“ (1963) erinnern, speziell an das Chaos auf dem Pagodenfest durch den zahnlosen Panther. Ein wahrlicher Schatzfund war dann das Heft 73 (1962) „In grauer Vorzeit“. Die erfinderischen Digedags auf dem Urmenschenplanet waren sympathisch, frech und witzig. Sie waren meine Freunde über die gesamte Kindheit.
Was war Ihr erster Gedanke, als Sie die Anfrage für diesen Reiseatlas bekommen haben?
Ich war Feuer und Flamme. Am Ende meines aktiven Berufslebens Landkarten ganz nach meinen Vorstellungen und ohne Vorgaben für Inhalt und Gestaltung für einen Atlas zu entwerfen und herzustellen, war ein Traum, der in Erfüllung ging. Und das zu den Reisen der Helden meiner Kindheit. Die Freude war riesengroß.
Was ist das Besondere an den Karten in diesem Buch?
Die anschauliche Kombination aus der Fiktion der MOSAIK-Hefte und der geographischen und historischen Realität ist das Besondere im Inhalt. Gestalterisch ist es die eigene, typische Ästhetik der Karten, die ein Äquivalent zu den herausragenden Grafiken der MOSAIKS schafft.
Als durchgängiges Gestaltungsmittel wählten wir eine plastisch wirkende Reliefdarstellung. Dabei werden physische, politische und auch thematische Flächenfarben nach einer Schräglichtschummerung moduliert. Auf politisch-administrativen Karten wird das Kolorit mit farbigen Grenzbändern im Stil historischer Stieler-Handatlaskarten dargestellt. Die physischen Karten enthalten eine besonders anschauliche Art der Wiedergabe des Reliefs – die Schweizer Manier mit luftperspektivischen Farben. Eine weitere Besonderheit des Atlas sind großmaßstäbliche, wirklichkeitsnahe Landschaftskarten. Hier werden Farben und Muster für die Bodenbedeckung mit der schattenplastischen Schummerung kombiniert. Neben den Übersichtskarten findet man im Atlas auch Stadtpläne, Globusdarstellungen und Karten zu den Themen Wirtschaft und Geschichte. Während die kartografischen Darstellungen von Mond und Mars auf aktuellen Daten der Weltraumforschung basieren, sind Nucleon und Neos komplett neu erschaffene Welten.
Wer lieferte die Ideen für die Karten?
Die Autoren des Kartenbuchs hatten die Ideen zu den einzelnen Karten. Sie lieferten Gedanken zum möglichen Kartenausschnitt und zu den Reiserouten der Digedags. Wir Kartografen setzten dann diese Ideen kartografisch um. Die Auswahl der Farben, Texturen, Modulationen, Linien, Symbole und Typographien und die Kombination dieser Kartenelemente geben nun eine anschauliche Vorstellung von den Handlungsorten und den Zeitabschnitten, in denen die Digedags unterwegs waren.
Wo haben Sie die Grundlagen für die Karten gefunden?
Alle Karten sind digitale Neuschöpfungen und von uns speziell für diesen Atlas entworfen und hergestellt. Als Kartengrundlagen nutzten wir oft topografische Karten des 17. bis 19. Jahrhunderts und für kleinmaßstäbliche Darstellungen historische Wandkarten und Atlanten aus unserem reichhaltigen Fundus. Neben diesen gedruckten historischen Atlas- und Handkarten haben wir aber auch freie Geodaten europäischer und US-amerikanischer Anbieter verwendet.
Wie entstehen solche Karten?
Ausgehend von der Zweckbestimmung, dem möglichen Inhalt und unseren Gestaltungsvorgaben wurde vor der eigentlichen Kartenherstellung ein konkreter technologischer Ablauf der Arbeiten festgelegt und ein redaktionelles Konzept aufgestellt. Alle Informationen zum Thema Reisen der Digedags wurden von uns aus den entsprechenden MOSAIK-Heften und aus den Konzepten der Autoren gesammelt, zweckbestimmt ausgewählt und klassifiziert. Nun begann die Suche nach geeigneten Ausgangsmaterialien für die Grundkartographie zu den Handlungsorten und vor allem auch zu den Handlungszeiten.
Dann wurde der optimale Kartenausschnitt bestimmt, ein Kartennetzentwurf gerechnet und der Kartenmaßstab festgelegt. Da Karten immer eben sind, die Erdoberfläche aber gekrümmt, ist eine verzerrungsfreie Abbildung nicht möglich. Man kann die Verzerrung mit der Auswahl eines geeigneten Kartennetzentwurfs aber möglichst gering halten. Wir wählten deshalb überwiegend flächentreue Abbildungen z.B. eine Albers-Kegelprojektion oder die Lambertsche Azimutalprojektion. In Karten wird der Georaum verkleinert wiedergegeben. Der Kartenmaßstab legt das Größenverhältnis zwischen der Realität und der Darstellung fest. Er wird als Bruchteil der realen Entfernung dargestellt,
z. B. 1 : 100 000. Das bedeutet 1 cm in der Karte sind 100 000 cm ( = 1 km) in der Natur. Der Maßstabsbereich im Kartenbuch reicht von 1 : 2 000 für die Innenstadt Roms bis zu 1 : 200 000 000 für die Weltkarten und Globusdarstellungen.
Mit der Auswahl der geeigneten Darstellungsmethoden begann nun die eigentliche Kartenbearbeitung – die Digitalisierung der Inhaltselemente.
Wir verwendeten für den Atlas die Vektor-Grafikprogramme Adobe Illustrator und Adobe InDesign, das Bildbearbeitungsprogramm Adobe-Photoshop, die Kartografie-Software DIGISYS und das offene Geoinformationssystem QGIS.
Wie lange haben Sie durchschnittlich an einer Karte gearbeitet?
Die Bearbeitungsdauer einer Karte ist vom Format der Karte, der Dichte und Komplexität des Inhalts und nicht zuletzt vom Aufwand der Inhaltsrecherche für die Grundkarte abhängig. Sie betrug bei diesem Atlas im Durchschnitt 25 Arbeitsstunden.

Welche Karte hat Ihnen besonders viel Freude gemacht?
Die Beantwortung dieser Frage fällt mir sehr schwer. Ich möchte aber drei Karten nennen.
Für die Karte „Lageplan des Herzogtums Schnorrershausen…“ der Runkelserie (s. unten links) ist die dargestellte fränkische Landschaft frei erfunden. Die Konstruktion einer Landschaft nach Beschreibungen in den MOSAIK-Heften hat viel Spaß gemacht.
Die „Terraforming“ der Planeten Nucleos und Neos (s. oben) für die Weltraumserie fällt auch in diese Kategorie – reine Fiktion. Für die Abbildung „Der Nucleon umkreist vermutlich die Sonne Luyten 726-8…“ haben wir die Fantasiedarstellung des Planeten mit einer anschaulichen Zeichnung der Sternensysteme in der Nähe unserer Sonne kombiniert und dabei neueste wissenschaftliche Erkenntnisse verarbeitet. Da konnten wir uns grafisch ausleben.
Die Karten der Amerikaserie waren in der Herstellung sehr aufwendig. Wir wollten inhaltsdichte, aber gut lesbare Darstellungen Amerikas zur Zeit des Bürgerkriegs schaffen. Als Kartengrundlage haben wir z.B. detaillierte historische topographische Karten der Jahre 1855 bis 1870 gefunden und verwendet. Bei allen Karten dieser Serie haben aber auch offene GIS-Daten in Geoinformationssystemen verarbeitet, z.B. digitale Höhenmodelle (DEM). Ein schönes Beispiel ist die Karte „Route der Digedags am See des Schweigens, dem Lake Tahoe“ (s. unten rechts).